Kraniche sind elegante, schöne Tiere, die als Zugvögel Jahr um Jahr ihre Wiesen und Felder bei uns für warme Gefilde verlassen und im Frühjahr wiederkehren. Allein das erfreut mich immer wieder. Ich möchte allerdings davon erzählen, wie ich überhaupt begann, sie zu sehen und Kraniche für mich in mehrfacher Hinsicht eine Bedeutung bekommen haben. Der Kranich gilt in Japan seither als Glückstier und wurde zu einem weltweit verstandenen Friedenssymbol. Ein überraschendes Kunsterlebnis war für mich ein Auslöser, Jahre später selbst Kraniche zu malen.
Der Kranich als Glückssymbol für Gesundheit und ein langes Leben: Sadako’s Geschichte
Japan, seine Landsleute und Kultur haben mich fasziniert, seit ich über den beruflichen Kontakt hinaus auch private Erfahrungen dort machen durfte. Japaner pflegen viele Bräuche und Glauben. Ganz besonders berührt hat mich ein Besuch in Hiroshima im Rahmen einer Urlaubsreise 2009. Seitdem lassen mich die Kraniche nicht mehr los…
In Japan ist der Kranich ein Glücksbringer und wird zu Geburtstagen und Hochzeiten verschenkt. Er symbolisiert Glück und ein langes Leben. Eine Legende besagt, dass die Götter demjenigen einen Wunsch erfüllen, der 1000 Origami Kraniche faltet. Eine junge, 11-jährige Überlebende des Atombombenangriffs auf Hiroshima 1945, Sadako Sasaki, hat sich dieser Aufgabe gewidmet, um für ihre Genesung von der Leukämie-Erkrankung zu bitten. Sie starb dennoch. Sadako‘s Geschichte wird im Gedenk-Museum in Hiroshima erzählt. Sie rührt an und mahnt.
Symbol der internationalen Friedensbewegung: der Origami Kranich
Sadako’s Mitschüler wollten ihr ein Denkmal errichten und an alle Atombombenopfer erinnern. Sie begannen Spenden zu sammeln. Die Aktion sprach sich rum und sorgte für Aufsehen. Am 5. Mai 1958, fast drei Jahre nach Sadakos Tod, konnte das Denkmal errichtet werden. Es steht im Friedenspark mitten in Hiroshima, genau dort wo die Atombombe niederging und wird als „Kinder-Friedens-Denkmal“ bezeichnet.
Berührt von dem Schicksal des kleinen Mädchens beschlossen die Mitschüler Freunde zu bleiben und gründeten den „Club der Papierkraniche“. Noch heute kümmern sich die Mitglieder um Sadakos Denkmal. Immer wieder falten sie Origami Kraniche, fädeln sie auf und ziehen sie zu Ketten zusammen. Diese Ketten hängen sie über das Denkmal, schicken sie an Atombombenopfer oder anderen kranken Menschen zur Ermutigung. Außerdem senden sie die Kraniche an Weltpolitiker, um ihnen zu zeigen, dass Kinder auf der ganzen Welt Atombomben und Kriege verurteilen. Umgekehrt werden aus der ganzen Welt Origami Kraniche nach Hiroshima geschickt und in Kunstwerken arrangiert, um ein Zeichen für Hoffnung und Frieden zu setzen.
So ist aus dem Club weniger Kinder heute eine weltweite Aktion und die Origami Kraniche zu einem Symbol der internationalen Friedensbewegung und des Widerstands gegen den Atomkrieg geworden.
Mahnmal in Hiroshima, Friedensdenkmal für Sadako Sasaki, Papierkranich-Memorial Vitrinen, Mein erster Origami Kranich unter Anleitung auf der Busfahrt, eigene Fotos Japan 2009
Begeistert von Kranichen nach einem Museumsbesuch
Wenige Jahre nach meinem Japan Besuch hatte ich eine weitere prägende Erfahrung mit Kranichen. Ich verbrachte eine Woche auf Fünen in Dänemark zu einem Portrait- und Aktzeichenkurs. Wir wohnten in einem schönen reetgedeckten und rosenumrankten Haus am Belt, zeichneten im Garten und genossen die Geselligkeit bei den leckeren Malzeiten unserer lieben Gastgeberin Jette. Was mich bis heute mit den Menschen verbunden hat, mit denen ich diese Woche erleben durfte, war jedoch ein Museumsbesuch.
An dem freien Tag machten wir einen Ausflug nach Kerteminde. Jette empfahl uns die Ausstellung
„Fugl“ und ich war weder besonders begeistert noch hatte ich eine Erwartung. Eine Ausstellung über Vögel?! Na gut.
Ein Künstlerleben
Und was soll ich sagen! Ich wurde überrascht. Wir haben Stunden im Garten, im Café und im
Haus von Johannes Larsen verbracht, der dort gelebt, Vögel beobachtet und gemalt hatte: auf Leinwand, Gegenstände und vor allem an die Wände. Der Ort erschloss sich für uns Raum für Raum, Motiv für Motiv und lies das Bild von einem Künstlerleben im besten Sinne in einer Künstlerkolonie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor unseren Augen entstehen.
Ein überraschendes Kunsterlebnis hatte auch hier wieder
mit persönlichen Einblicken in ein Künstlerleben zu tun.
Der Kranichfries
Wirklich überwältigt hat mich allerdings ein einziges Werk in der „Vögel“ Ausstellung im Museum. Nach dem Gang vorbei an unzähligen Zeichnungen, morbiden Exponaten und Bildern von Vögeln in Hülle und Fülle standen wir plötzlich in einem großen, lichtdurchfluteten Saal, der sich zum Garten öffnete. Die gesamte Länge der den großen Fensterflügeln gegenüberliegende Wand war bedeckt von einer Szene voller Kraniche. Sie waren detailreich und lebensgroß in Aquarell auf Papierbahnen gemalt.
Das „Kranichfries“ von Carl Christian Tofte hat mich total in seinen Bann gezogen und die Faszination hat bis heute nicht nachgelassen.
-
"Kranichfries" von Carl Christian Tofte
Button
-
im Johannes Larsen Museum, 2017
Button
Mehr anzeigen
"Kranichfries", Carl Christian Tofte in der Ausstellung "Vögel" im Johannes Larsen Museum, Kerteminde, Dänemark, 2017
Carl Christian Tofte’s Kunstfertigkeit und Hingabe
Da ist zunächst die Fertigkeit des Künstlers. Wir haben uns gefragt, wie er in diesem Format ein derart detailgetreues Abbild der Vögel in Aquarell malen kann. Das bedeutet nicht nur genaue Planung und Präzision sowie Geduld, sondern auch, dass das Papier flach liegt. Dabei ist für den Maler das Motiv verzerrt, egal von wo er schaut und arbeitet. Es gab keine Spritzer oder Kleckse - der gesamte Hintergrund war unberührtes Papier.
Er beherrscht definitiv sein Handwerk. Er beherrscht auch die Komposition.
Die Geschichte eines Bildes hat (mindestens) zwei Dimensionen
Der Künstler hat jahrelang Kraniche beobachtet und nach der Natur gezeichnet. Er hat Filme und Fotoserien analysiert. Er hat in der Natur seine Notizen in Stenografie niedergeschrieben, und seine Beobachtungen oft ergänzt durch primitive, hingekritzelte Hieroglyphen. Ich würde sagen, man muss schon ein wenig besessen sein, um sich dem derart hinzugeben.
All dies bestimmt für mich die Geschichte eines Bildes, die somit immer zwei Dimensionen hat: Eine umfasst die Entstehung, die Hintergründe, Motivation und Inspiration des Künstlers. Sie ergänzt die Dimension der dargestellten Geschichte.
„[…] Die Vorbereitung des „Kranichfrieses“ selbst dauerte etwas mehr als zwei Monate, von Ende März bis Anfang Juni 2016. Die Idee und die Ansätze kursieren jedoch schon seit Jahren. „Der Kranichfries“ ist ein Konzentrat aus neun Jahren Erfahrung mit den Kranichen in Pulken. Das Werk ist eine Geschichte wie ein ägyptisches Grabgemälde. Die große Geschichte ist Ankommen, Ausruhen und Aufbruch, was ich bei einem Kranichfrühling erlebe. Eingebettet ist eine detaillierte Kranichsprache, die Pantomime der Kraniche aus Tanz, Drohungen und Positionierung. […]“
Die Informationen entstammen dem
Blog des Künstlers, das Zitat ist frei übersetzt.
Das war ein rundum toller Tag. Und am nächsten Tag und an ganz vielen weiteren danach habe ich mich wieder meinen geliebten Gesichtern und dem Aktzeichnen zugewandt. Kraniche kamen erst sehr viel später.
Sehen lernen
Ich fand Kraniche schon immer elegant, aber ich hatte kein spezielles Faible für Vögel. Das Erlebnis hat meine Wahrnehmung verändert. Jetzt sehe ich die Kraniche mit anderen Augen.
Ich sehe sie.
Wirklich Sehen erschließt uns die Schönheit in Allem.
Sie halten sich auf den Wiesen von Greetsiel auf, wo ich häufig ein paar Tage an der Nordsee verbringe. Sie fliegen über Nordrhein-Westfalen hinweg. Manchmal verfolge ich Schwärme, die über mein Haus fliegen (obwohl es sich dabei eher um Gänse handelt, die Kraniche ziehen weiter westlich von Köln).
Es hat allerdings noch Jahre gedauert, bis ich das Motiv des Kranichs selbst malerisch aufgegriffen habe. Ich habe mich an dieses Erlebnis erinnert und dann mit verschiedenen Hintergrundfarben experimentiert, tanzende Kraniche und solche im Flug gemalt. Wirklich begeistert haben mich die Arbeiten alle nicht. Sie erschien mir fad und langweilig. Jahre später habe ich zwei Bilder mit fliegenden Kranichen überarbeitet.
Inspiration wirkt. Oft erst Jahre später…
Inspiration wirkt auf geheimnisvolle Weise und ganz individuell. Es findet eine Verknüpfung von Gedanken und Ideen, Erinnerungen und Bildern statt, die persönlich ist und einzigartig. Nur deshalb sind wir in der Lage, immer wieder neues zu kreieren. Denn wurde nicht eigentlich alles Grundlegende schon erfunden, die Gesetze der Physik verstanden, alle chemischen Elemente entdeckt…? Unsere Bedürfnisse entwickeln sich, unsere Werte wandeln sich und so bleibt das Bessere immer der Feind des Guten. Unser Streben nach Neuem, Funktionalerem oder nach Schönheit hört nie auf. Wir bewerten es nur immer wieder neu.
Kreativität und Innovation sind unendlich. Und lernen verläuft nicht linear.
…und ist eine individuelle Kombination aus vielen Einflüssen
Ich habe meinem alten Kranichbild etwas hinzugefügt. Ich habe das geliebte und mittlerweile von mir viel verwendete Zwiebelmuster ergänzt und wie einen griechischen Fries an der langen Seite des Querformates aufgemalt.
Dabei bin ich farblich bei Orange geblieben. Eigentlich keine besonders von mir geliebte Farbe, aber der Hintergrund war Orange. Und ich wollte einmal den Neon-farbenen Acrylstift zum Einsatz bringen, den ich geschenkt bekommen hatte… Eine Freundin wollte mich wohl mal aus meiner Komfortzone locken. Nun, ich hatte ja ohnehin nichts zu verlieren.
„Steal like an artist“
Dazu habe ich die Idee des Kranichfrieses aufgegriffen und für mich interpretiert.
Heute kann ich sagen, das Bild ist nun für mich fertig und es ganz meins. Ich finde: Mut zahlt sich aus. Ich habe meine eigenen technischen Fähigkeiten weiterentwickelt und schließlich damit einem alten Bild neues Leben eingehaucht. Es zeigt damit für mich einen Weg auf und repräsentiert meine Entwicklung in Ausdruck und Stil.
Die Bedeutung des Ausdrucks steal like an artist nach Austin Kleon findest du in der Fußnote. *
"Der Zug der Kraniche", Mischtechnik auf Leinwand, 50 x 100 cm, 2022
So wie manchmal etwas stehen bleiben darf als Zeugnis für eine bestimmte Zeit, so darf auch manches Mal etwas verworfen oder weiterentwickelt werden.
Ein
Bild mit tanzenden Kranichen lasse ich vorerst so stehen, da ich die Leichtigkeit und Spontaneität mag und die Farbe Türkis, die ich als Hintergrund verwendet habe. Sie bleiben ein Zeugnis ihrer Zeit für mich.
Faltanleitung herunterladen
Und es geht weiter mit dem Kranich-Thema und mit Zwiebelmuster in 2024:
*
Nach Austin Kleon – “Steal like an artist”: The author cautions that he does not mean 'steal' as in plagiarise, skim or rip off — but study, credit, remix, mash up and transform. Creative work builds on what came before, and thus nothing is completely original. (Wikipedia)